Fakten und Vorschläge des Gesundheitsamtes des Rheingau-Taunus-Kreises

Ist-Zustand und aktuelle Entwicklung

Eine aktuelle Studie der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und der Bundesärztekammer zur Altersstruktur- und Arztzahlentwicklung bestätigt den Mangel an Ärzten nicht nur im stationären Bereich, sondern auch auf dem ambulanten Sektor und skizziert ein teilweise besorgniserregendes Bild. Mecklenburg-Vorpommern z.B. ist durch Abwanderungen von Einwohnern (und auch Ärzten) im erwerbstätigen und gebärfähigen Alter vom ehemals jüngsten zum ältesten Bundesland geworden. Dort werden Lösungsmodelle erarbeitet, die eine qualitativ hochwertige medizinische Versorgung sicherstellen sollen.

In Hessen sinken ebenfalls die Arztzahlen. Geht die Entwicklung so weiter, wird es in den kommenden Jahren an Nachwuchs fehlen. Bereits heute bestehen in einigen ländlichen Gebieten wie dem Vogelsbergkreis, dem Odenwaldkreis oder der Region um Fulda lokale Engpässe im hausärztlichen Bereich.

Ein inzwischen erkennbares zunehmendes Nord–Südgefälle in der demographischen Entwicklung und damit auch der Ärztedichte im ländlichen Raum zeichnet sich immer deutlicher ab und wird sich weiter verstärken. Laut KV ist in den nächsten zehn Jahren vor allem die hausärztliche Versorgung gefährdet, bis 2030 werden voraussichtlich auch Ärzte anderer Fachgruppen, besonders Nervenärzte und Chirurgen fehlen.

Der Rheingau-Taunus-Kreis ist mit einer gleichbleibend hohen Arztdichte und drei Schwerpunktkliniken der Gerontopsychiatrie (Hessenklinik Rheinhöhe, Valentinushaus Scivias, Otto- Fricke KH) noch durchschnittlich gut versorgt.

Im Rheingau-Taunus-Kreis sind im Mai 2010 noch 225 Ärzte (2007=227 Ärzte) verschiedener Fachrichtungen, davon acht Fachärzte mit Zusatzbezeichnung Psychiatrie niedergelassen. ( Fachärzte= 105, Hausärzte=120) Der Bedarf des RTK wird wegen der Anbindung der Patienten an die medizinische Versorgung der Stadt Wiesbaden von der KV nicht isoliert betrachtet.

Ursachen

Die Ärzte im niedergelassenen Bereich finden schon heute in manchen Regionen immer öfter keine Nachfolger mehr. Tätigkeiten in der direkten Patientenbetreuung sind eindeutig weniger gefragt. Als Begründung benennt eine aktuelle Umfrage der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen in erster Linie die hohe Arbeitsintensität bei niedrigem Personalstand in der Klinik und bei jungen Frauen und Männern die mangelnde Vereinbarkeit von Beruf mit Familie durch zusätzliche Nachtdienste. Ein hohes wirtschaftliches Risiko wird in der Niederlassung in eigener Praxis gesehen. Die ärztliche Tätigkeit wird zunehmend durch Verwaltungsaufgaben für die Krankenkassen (Verschlüsselung von Diagnosen usw.) reglementiert. „Der Arztberuf erscheint nicht mehr attraktiv. Er ist geprägt durch zu hohe Arbeitsbelastung, geringen Verdienst und unregelmäßige, lange Arbeitszeiten,- vor allem als Landarzt",  stellte der stellvertretende Vorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen in einer Presseerklärung bereits im August 2007 fest.

Nachwuchssorgen

Der Ärztemangel wird in den kommenden Jahren noch gravierender, wenn eine große Anzahl von Vertragsärzten altersbedingt aus den Praxen ausscheidet. Die Patientenversorgung wird zusätzlich durch Abwanderung von Ärzten ins Ausland und Praxisschließungen aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten belastet.

Inwieweit mit einer veränderten Altersstruktur schon bald eine medizinische Unterversorgung verbunden sein wird, hängt nicht zuletzt auch vom ökonomischen Einsatz der finanziellen Ressourcen im System und den beruflichen Perspektiven der Leistungsträger im Gesundheitswesen ab.

Es lassen sich immer noch genügend motivierte junge Menschen zu Medizinern, Krankenschwestern, Physiotherapeuten, und Pflegekräften ausbilden. Während genügend Ausbildungsplätze in Therapie- und Pflegeberufen zur Verfügung stehen, unter anderem auch in unserem Kreis in der Europa-Freseniusschule in Idstein, sind die Studienplätze für das Medizinstudium an deutschen Universitäten stark limitiert. Die Nachfrage übersteigt seit Jahren das Angebot. In Folge der Reduktion der Bettenkapazitäten und Verkürzung der Liegezeiten in den ausbildenden Universitätskliniken reduzieren die Klinikträger parallel die Kapazitäten für Ausbildung und Lehre.

Initiativen

Die öffentliche Wahrnehmung dieser Entwicklung hat sich in den letzten beiden Jahren spürbar intensiviert.

Landkreistag Hessen und Kassenärztliche Vereinigung Hessen haben im Jahr 2009 eine Kooperationsvereinbarung geschlossen, eine Lenkungsgruppe wurde gebildet. Die kleinräumige Bedarfsanalyse als Steuerungsinstrument wird im Rahmen eines Pilotprojektes derzeit in Fulda erprobt. Bei der Organisation der Bereitschaftsdienste der Hausärzte werden neue Modelle im Sinne einer öffentlichen Daseinsfürsorge z.B. in Kooperation mit den Kliniken diskutiert. Das hessische Sozialministerium hat im Mai 2010  in Wiesbaden ein internationales Symposium zum Thema „Sicherstellung der gesundheitlichen Versorgung im ländlichen Raum“ ausgerichtet. Experten aus Finnland und Österreich berichteten zur Organisation und Sicherstellung der Versorgung im Gesundheitswesen aus ihren Heimatländern. Nach deren Ausführungen haben sich in Finnland Gesundheitszentren mit unmittelbar angeschlossenen Sozialdiensten bewährt. In Österreich versucht man auch abgelegene bergige Regionen mit schneller DSL- Internetverbindungen zu versorgen, um die Telemedizin zur Konsultation verschiedener Fachärzte durch den Hausarzt zu ermöglichen.

Lösungsansätze

Man wird dem medizinischen Nachwuchs im einheimischen Gesundheitssystem eine berufliche Perspektive bieten müssen um Abwanderung und Umorientierung zu verhindern. Aufgrund der nachgewiesenen Bindung von einheimischen Studenten an den Heimatort sollten die Entscheidungsträger in den Gemeinden prüfen, ob sie Studenten aus der Region, die bereits beabsichtigen Allgemeinmediziner/Hausarzt zu werden, nach der bestandenen „Ärztlichen Vorprüfung (Physikum)“ unter der Option einer späteren Niederlassung vor Ort, bereits im Studium und in der Weiterbildung zum Allgemeinmediziner finanziell fördern. In anderen Modellen stellen Gemeinden den Hausärzten Praxisräume kostengünstig zur Verfügung oder kaufen einen verfügbaren „Praxissitz“ d.h. einen Versorgungsauftrag der KV von einem ausscheidenden Arzt und verlegen die Praxis in ihre Gemeinde (Versorgungsauftrag ist auch teilbar mit Nachbargemeinde). Zusammenschlüsse von Hausärzten haben sich wirtschaftlich bewährt und reduzieren die Belastung des einzelnen im Praxisalltag durch gegenseitige Vertretung. Städte und Gemeinden können großzügig bemessene ebenerdige Parkplätze einplanen, die mit Gehwagen und Rollstuhl gut zu befahren sind. Ein barrierefreier Zugang sollte insbesondere für den Besuch des Hausarztes sichergestellt sein. Umrüsten und Nachrüsten könnte z.B. durch die öffentliche Hand gefördert werden.

In der Nähe von großen Städten werden mittelfristig noch keine Engpässe der allgemeinen ärztlichen Versorgung erwartet. Die zunehmende Ausdünnung der entlegenen ländlichen Gebiete mit Fachärzten und Hausärzten werden längere Wegstrecken für die Patienten mit sich bringen. Dies lässt Raum für phantasievolle Gestaltungsmöglichkeiten einer zumutbaren Erreichbarkeit des Hausarztes für  ländliche Gemeinden. Etwa die Optimierung von Nahverkehrsstrecken, Sammeltermine mit barrierefreien Kleinbussen zu Fachärzten in der Stadt, etwa zum Augenarzt, Gynäkologen, Urologen, Nervenarzt. Die sogenannte „Drehtürpsychiatrie“ ist in den letzten Jahren zum wesentlichen Kostentreiber in der stationären Behandlung von psychisch kranken Patienten geworden.

Die Organisation von Fahrgemeinschaften ist nicht nur sinnvoll für Gehbehinderte, und Sehbehinderte, sondern auch für Patienten mit kognitiven Einschränkungen, idealerweise mit Begleitungsperson. Lange belastende Wartezeiten bei Ärzten und Therapeuten für ältere körperlich und psychisch eingeschränkte Patienten wären somit vermeidbar. Vorsorgeuntersuchungen, Verlaufsbeobachtungen, Medikamentenverordnung würden regelmäßiger wahrgenommen; eine stationäre Behandlung wäre in dem ein- oder anderen Fall vielleicht vermeidbar.

Die Budgetierung der Arzneimittelkosten von Hausärzten durch die KV für teure Medikamente wie z.B. Parkinsonmittel, stellt im übrigen eine hohe und vermeidbare Mehrbelastung der schwerkranken und oft nicht mobilen Patienten dar, die auch nach gut eingestellter Dauermedikation oftmals lediglich zur Verschreibung ihrer Medikamente ihren Facharzt in der Stadt aufsuchen müssen.

Eine lokale Hotline in der örtlichen Gemeinde oder Kirchengemeinde zur Koordination der medizinischen, hauswirtschaftlichen und handwerklichen Hilfestellungen für Senioren, Tauschbörsen und Koordination von Aktivitäten, Treffen von Selbsthilfegruppen für Senioren sind hilfreich.

Die Gemeindeschwester „AGNES“ früherer Jahre wurde, nachdem die juristischen Voraussetzungen wieder geschaffen wurden, in den östlichen Bundesländern erfolgreich wiederbelebt, - speziell geschulte Arzthelferinnen und Krankenschwestern führen „in Delegation“ Hausbesuche für den Hausarzt bei chronisch Kranken durch. Ein Zuckertest, Verbandswechsel, Blutdruckmessung, Beratung zur Ernährung und Tabletteneinnahme benötigt nicht unbedingt den Hausarzt.

Technische Voraussetzungen für die Telemedizin und die E-Visite für die kommenden Seniorengenerationen sind hier baldmöglichst zu schaffen. Moderne Informationssysteme stellen vor allem im ländlichen Raum zukünftig eine Ergänzung und Alternative zu Wartezimmer und Hausbesuch, ebenso wie Teleshopping, Bringdienste für Lebensmittel und online- banking dar.

Die Arztpraxen benötigen schnelle DSL- Verbindungen für die Abrechnung und den Austausch von Daten mit der Krankenkasse, den Austausch der Befunde und Röntgenbilder mit Kollegen und Krankenhäusern, nicht zuletzt zur Vermeidung von Doppeluntersuchungen und zum Informationsaustausch nach Entlassung aus dem Krankenhaus (Schnittstellenproblematik).

Mehrfacherkrankungen

Es zeichnet sich zukünftig ein spezieller Bedarf in der ambulanten Diagnostik von geriatrischen Erkrankungen ab. Für die Diagnostik zur Feststellung einer schleichenden Demenz oder Mehrfacherkrankungen aus verschiedenen Fachgebieten (z.B. Konzentrationsstörungen und Diabetes und Herzrhythmusstörungen und Bewegungseinschränkung) und damit verbundenen Einschränkungen bei der Fahrtauglichkeit von älteren Führerscheininhabern werden zukünftig mehr geriatrisch geschulte Haus- und Fachärzte benötigt werden.

Auch die besten Berechnungsprogramme zur Demographie können nur existierende, bekannte Trends fortschreiben. Strukturbrüche sind nicht vorhersagbar. Zunahme der Altenjahrgänge, höhere Lebenserwartung und damit steigende Kosten im Gesundheitswesen sind seit längerem in der Diskussion. Die Stellschrauben des Rechenmodells als wichtige Modellannahmen, z.B. der Anstieg der Lebenserwartung um ca. sechs Jahre, ist jedoch alles andere als eine sichere langfristige Prognose. Mit der Alterung der Bevölkerung verändern sich Krankheitsspektrum und Versorgungsbedarf der Bevölkerung. Herausforderungen an die gesundheitliche Versorgung und die sozialen Sicherungssysteme ergeben sich zum einen durch die Zunahme bestimmter Gesundheitsprobleme, z.B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes mellitus, Skeletterkrankungen, Krebserkrankungen, Demenz, zum anderen durch Multimorbidität (Mehrfacherkrankungen) und daraus folgende funktionale Beeinträchtigung, Behinderung im Alltag und Pflegebedürftigkeit.

Fahrtauglichkeit

Zur Fahrtauglichkeit bei älteren Menschen, die im Straßenverkehr polizeilich aufgefallen sind, werden immer mehr gutachterliche Stellungnahmen bei TÜV, Gesundheitsamt und Fachärzten mit Zusatzausbildung in Verkehrsmedizin nachgefragt.

In etwa 30 % der Fälle konnten eingeleitete medizinische Maßnahmen den Gesundheitszustand nicht stabilisieren oder eine dementielle Entwicklung war so weit fortgeschritten, dass die Führerscheinstelle die Fahrerlaubnis entziehen musste.

In einigen Fällen konnte aber auch bei „grauem Star“ schon eine Augenoperation Abhilfe schaffen. Der Entzug der Fahrerlaubnis stellt immer einen gravierenden Eingriff in die Mobilität und damit die Lebensqualität, besonders bei alleinstehenden älteren Menschen dar. Es entsteht unmittelbar ein Versorgungsbedarf durch Dritte. Zeitgemäße Modelle müssen als präventive Maßnahmen daher unvoreingenommen diskutiert werden: z.B. regelmäßige Seh- und Hörtests für Ältere, freiwillige Fahrproben bzw. Training am Fahrsimulator ohne Sanktionen. Die Zulassung der eingeschränkten Fahrerlaubnis, etwa nur am Tage von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, nur bei guten Straßenverhältnissen ohne Eis und Schnee bei guter Sicht, nur im begrenzten Umkreis des Wohnumfeldes wäre eine Lösungsmöglichkeit zur Erhaltung der Mobilität.

Die Autoindustrie bietet für ältere Menschen bereits heute viele technische Möglichkeiten, wie z.B. Bremsassistent, Einparksensorik, Spurhaltesystem, Automatikgetriebe, die auch auf ältere Menschen abgestimmt sind und körperliche Nachteile ausgleichen können.

Ausblick

Könnten Morbiditätsprognosen anhand heutiger Neuerkrankungen einfach linear für die Zukunft fortgeschrieben werden, müssten wir mit einem weiteren Anstieg der Zahl kranker und pflegebedürftiger Menschen und explodierenden Kosten rechnen. Nicht nur Kinderärzte sind angesichts von Adipositas (Fettleibigkeit) bei ca. 25 Prozent der Kinder, Bewegungsarmut, frühzeitigem Konsum von Alkohol, Nikotin und Drogen, oft schon in ihrer körperlichen Entwicklungsphase zwischen dem 11. und 14. Lebensjahr beginnend, unsicher, ob der Trend tatsächlich auch langfristig in diese Richtung geht.

Frühzeitige Prävention durch gesunde Ernährung und Bewegung bereits in der Kindheit, in der Jugend und im mittleren Alter wird zur Erhaltung der Gesundheit, Mobilität und Selbstständigkeit im letzten Lebensabschnitt beitragen. Die Bevölkerung wird dann zwar älter aber bleibt auch länger gesund. Ernährung und Sportindustrie, Fitness- und Reiseveranstalter werden den älteren Verbraucher mit geeigneten Angeboten umwerben.

Selbst wenn die ungünstigsten Prognosen nicht eintreffen, steht das Gesundheitssystem vor großen Herausforderungen. Das Robert-Koch- Institut analysierte 2010 aber auch die aus dem demografischen Wandel resultierenden Chancen für die Gesundheitswirtschaft. Der wachsende Bedarf an Pflege und gesundheitlicher Versorgung schafft Arbeitsplätze. Telemedizin und Medizintechnik für eine alternde Gesellschaft entwickeln sich mit hoher Geschwindigkeit.

Altern hat darüber hinaus einen eigenen Wert. Die Zunahme der Lebenserwartung eröffnet vielen Menschen die Perspektive, lange Jahre nach Beendigung der Berufs- und Familienphase aktiv am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Es zeichnen sich hierbei Möglichkeiten ab, neue Formen des gesellschaftlichen Miteinanders zu finden.

Dr. med. Christina Klein, Amtsärztin Rheingau-Taunus-Kreis


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